"Keine Schule ohne Feminismus", eine Gruppe von Berliner Schüler:innen, fordert die Gleichberechtigung aller Geschlechter im Unterricht und im Schulsystem.
Es ist der 25. November 2020, internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. In einem Berliner Gymnasium ist an diesem Datum eine "Wall of Shame" aufgebaut, die eine Gruppe aus Schüler:innen zusammengestellt hat. Daran hängen viele weiße Zettel. Auf einem steht zum Beispiel: "Als ich einem Lehrer auf den Fuß getreten bin und mich entschuldigt habe: 'Ach weißt du was, das ist doch mal ganz schön, von einer Frau getreten zu werden'". Auf einem weiteren Zettel steht: "Als ich im Unterricht stehen geblieben bin, um mir die Schuhe zu binden, sagt ein Mitschüler: 'Boah, live Porno'". Auf vielen, vielen weiteren Zetteln werden ebenfalls (anonym) sexistische Situationen geschildert, die Schüler:innen im Unterricht und im Schulalltag erlebt haben.
Schüler:innen offenbaren Sexismus im Schulalltag
Hinter der Aktion steckt die Schüler:innen-Gruppe "Keine Schule ohne Feminismus". Mit der "Wall of Shame" wollten sie im vergangenen Jahr auf Sexismus im deutschen Schulsystem aufmerksam machen. Aufmerksamkeit gab es innerhalb ihrer Schule genug: Bei ihren Mitschüler:innen und Lehrer:innen habe die Aktion verschiedene Reaktionen hervorgerufen, erzählt Lili (15), die Teil der Gruppe ist, im Gespräch mit EMOTION: "Leute waren erschrocken, was an der Schule passiert und haben die Realität nochmal mit anderen Augen gesehen. Und dann gab es ein paar Menschen, die sich ein bisschen darüber lustig gemacht haben und bei manchen Aussagen meinten, 'das ist ja gar nicht so schlimm'. Aber die Mehrheit hat positiv reagiert, beziehungsweise genauso erschrocken".
Einige Lehrer:innen hätten sich in den Situationen auch wiedererkannt und daher angegriffen gefühlt, fügt Laura (16) hinzu. Anprangern wollten sie damit aber niemanden. Seit der Aktion versuchen die Mitglieder der Initiative, mehr in den Austausch mit der Schulleitung und Lehrer:innen zu gehen. Das gestalte sich aber schwierig - viele ihrer Mails blieben unbeantwortet und nur vereinzelt würde ein Austausch mit Lehrer:innen stattfinden, erzählt die Gruppe. "Die Schulleitung hat uns aber zugesprochen, dass wir eine Toilette für nicht-binäre Menschen kriegen", merkt Lili an. Immerhin: Ein erster kleiner Stein in Richtung Geschlechtergleichberechtigung in ihrer Schule ist damit vielleicht ins Rollen gekommen.
Offener Brief an Bildungsministerin und Bildungssenatorin
Doch ihr Vorhaben ist noch viel größer: Die Mitglieder von "Keine Schule ohne Feminismus" wollen auch auf Bundesebene etwas bewegen und fordern eine deutschlandweite, geschlechtergerechte Überarbeitung des Lehrplans. Aktuell ist der nämlich noch meilenweit davon entfernt und von sexistischen Strukturen geprägt: "Der Unterricht ist einfach sehr hetero-normativ und cis-männlich gestaltet", kritisiert Lili. Nur wenige Monate nach der "Wall of Shame" verfasst die Gruppe zum Weltfrauentag am 8. März 2021 einen offenen Brief an Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und Forschung, und Sandra Scheeres, Senatorin für Bildung, Jugend und Familie.
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Lehrplan bislang von männlichen Sichtweisen geprägt
Ihre Forderungen sind konkret: Zum Beispiel wollen sie, dass überall im Unterricht eine geschlechtergerechte und intersektionale Sprache verwendet wird, die FLINTA ("Frauen, Lesben, Intersexuelle-, Nonbinary-, Trans- und Agender-Personen") mit einbezieht. "Ohne geschlechtergerechte Sprache kann Schule heutzutage kein diskriminierungsfreier Ort sein", erklären sie.
Der Deutschunterricht müsse deutlich feministischer gestaltet werden. "In der großen, großen Mehrheit werden nur Texte von Männern gelesen", kritisiert Laura. Dabei gibt es genug Literatur von Frauen: Jane Austen, Margarete Stokowsi oder Virginia Woolf sind nur ein paar wenige der vielen Autorinnen, die als Alternativlektüre im Brief vorgeschlagen werden.
Auch für den Geschichts-, Politik- und Philosophieunterricht wünscht sich die Schüler:innen-Gruppe deutliche Veränderungen im Lehrplan: "Das, was uns beigebracht wird, ist nicht Weltgeschichte, sondern die Geschichte der Männer, aus einer eurozentristischen Perspektive erzählt". Rassistische und sexistische Aussagen, wie sie beispielsweise von Kant, Aristoteles oder Hegel gemacht wurden, sollten "thematisiert und nicht totgeschwiegen werden". Es brauche "Geschichts-, Politik- und Philosophieunterricht, der nicht von weißen cis-Männern dominiert wird, um allen die Möglichkeit zu geben, sich selbst darin zu finden, repräsentiert zu fühlen, sich identifizieren zu können und Vorbilder zu entwickeln".
Auch der Sexualkundeunterricht sei "mega einseitig", kritisiert Laura. Sie und die anderen Gruppenmitglieder wünschen sich Aufklärung, die zum Beispiel auch die weibliche Lust viel mehr behandle und nicht nur von heterosexuellem Sex ausgeht. Auch der Umgang mit Themen wie Menstruation, Abtreibung und Verhütung sei im Unterricht viel zu konservativ.
Eine Antwort auf ihren Brief hat die Initiative bislang noch nicht erhalten. "Mal sehen, vielleicht wenden wir uns nochmal per E-Mail an die", meint Laura. Ihr Engagement für ein geschlechtergerechtes Schulsystem läuft zumindest weiter. Auf Instagram klärt die Gruppe über Genderthemen und feministische Fachbegriffe auf und informiert über ihre Arbeit.
Feministische Aufklärung auch über Instagram
Fast 5.000 Menschen folgen dem Account "Keine Schule ohne Feminismus" mittlerweile. Die Initiative erfährt dort auch viel Unterstützung für ihre Arbeit. "Wir kriegen extrem motivierende Nachrichten und werden gefragt, ob wir Sachen nochmal genauer erklären können", erzählt Lili. "Viele Menschen reagieren positiv oder machen sogar Anregungsvorschläge, durch die wir auch dazu lernen können. Am Anfang haben wir zum Beispiel den Begriff Frauen verwendet, jetzt benutzen wir FLINTA. Den Begriff 'Weltfrauentag' benutzen wir auch nicht mehr, stattdessen 'feministischer Kampftag', weil es einfach alle Menschen einschließt. Das ist auch ein starker Lernprozess für uns", fügt Laura hinzu.
Im nächsten Jahr machen Lili und Laura ihr Abitur. Wie es für sie danach weitergeht, wissen sie noch nicht. Für Geschlechtergerechtigkeit wollen sie sich aber trotzdem weiter einsetzen. "Ich werde auch nicht aufhören, mich dafür zu engagieren, das wird glaube ich immer ein Teil bleiben – vermutlich aber eher ehrenamtlich", meint Lili.
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