"Ja, seine Leidenschaft zum Beruf zu machen, ist erfüllend" sagen die einen. "Nö, Selbstverwirklichung geht auch im Privatleben" sagen die anderen. Geht Erfüllung nur, wenn man seinen Job wirklich liebt? Ein Pro & Contra.
Beruf gleich Berufung?
Nicht für Kerstin Diehl. Dabei verwirklicht sie sich gern – in ihren Hobbys. Die PR-Managerin hält es für gefährlich, das Gefühl von Selbstverwirklichung vor allem im Job zu suchen und sagt: Sie muss ihren Job nicht lieben, um ein erfülltes Leben zu führen.
Mein Beruf ist für viele ein Traumberuf: Als PR-Managerin reise ich viel, arbeite mit interessanten Kunden und erlebe Außergewöhnliches. Es gibt aber auch Dinge, die mich nerven, etwa das ganze Administrative. Habe ich deswegen den Beruf verfehlt? Nein! Wer nicht von sich behaupten kann, dass sie oder er teilweise vom Job genervt ist, hebe bitte die Hand!
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Wir leben in einer Gesellschaft, die immer noch stark von Erwerbsarbeit geprägt ist. Auch wenn immer mehr Menschen Sinn in ihrer Arbeit finden wollen, arbeiten die meisten Menschen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das finde ich total okay.
Do what you love? Das kann sich nicht jeder leisten!
Doch heute wird überall kommuniziert: Do what you love – finde Erfüllung in deiner Arbeit. Das baut viel Druck auf und schürt Versagensängste. Leider können es sich nicht alle leisten, das zu machen, wofür ihr Herz schlägt, denn man muss schließlich jemanden finden, der einen dafür bezahlt. Wer seine Leidenschaft zum Beruf machen konnte, von dem sie oder er leben kann, ist privilegiert. Wie das mit Privilegien so ist – sie werden eben nicht allen zuteil. Daher hab ich ein Problem damit, pauschal zu sagen, man muss seine Arbeit lieben. Und ich frage mich: Wieso werden Arbeit und Selbstverwirklichung so stark miteinander verknüpft? Stichwort: Work-Life-Balance. Ist es nicht okay, durch Arbeit einfach nur Geld zu verdienen, zufrieden zu sein und die Leidenschaft im Hobby auszuleben? Wie viele, auch in meiner Branche, starten eine Vier-Tage-Woche? Ganz ehrlich, so sehr ich meinen Beruf schätze, würde mir jemand das gleiche Geld geben, ich würde auf jeden Fall weniger arbeiten.
Ich bin ein Arbeiterkind, die erste in unserer Familie, die studiert hat. Zum Glück haben meine Eltern mich darin unterstützt. Ich habe während meines Studiums trotzdem jeden erdenklichen Job gemacht, ich habe geputzt, habe am Fließband gestanden, als Küchenhilfe gearbeitet. Es war durchaus mein Ziel, durch eine gute Ausbildung in meinem Beruf Sinnerfüllung zu finden, aber ich hatte auch das Glück und die Möglichkeit, das zu tun. Viele Kollegen und Kolleginnen, die ich in meinen Aushilfsjobs getroffen habe, hatten das nicht.
Leidenschaft habe ich für Dinge, die ich nach Lust und Laune tun kann
Kerstin DiehlTweet
Sich ohne Zwänge ausleben – wie Hobbys helfen
Ich wollte immer "irgendwas mit Medien" machen und habe diese Leidenschaft zum Beruf gemacht. Und so war für mich die Arbeit beinahe 20 Jahre lang mein Leben. Ich habe mich fast nur darüber definiert und meinen Selbstwert aus der Arbeit gezogen. Aber die Pandemie hat viel verändert. Ich habe wieder angefangen, zu malen und mir einen Hund geholt – das macht mich beides glücklich. Und auf keinen Fall möchte ich eines meiner Hobbys zum Beruf machen. Ich will weder Hundetrainerin werden noch Bilder als Auftragsarbeit malen. Mir ist mal angeboten worden, eine Interior-Kolumne zu schreiben, ich habe mich geehrt gefühlt, aber erst mal abgelehnt. Mein Hobby ist mein Hobby, und nur so kann ich es ohne äußere Zwänge ganz nach Lust und Laune gestalten. Glück, das bedeutet für mich Freiheit und Selbstbestimmung in meinem Privatleben – sehr hohe Werte für mich. Wenn ich mich in meiner Freizeit verwirkliche, ist das frei und spielerisch, aber vor allem gibt es mir den Ausgleich, das nicht mehr in einem Job tun zu müssen. Tatsächlich bin ich dadurch sogar noch besser in meiner Arbeit geworden, denn ich bin heute viel gelassener und kann viel besser loslassen.
"Einen Alltag mit einem Job, für den ich nicht brenne, stelle ich mir ziemlich kalt vor"
Alle haben Katharina Regele davon abgeraten, Bäckerin zu werden. Aber Backen gibt ihr Schwung fürs Leben – und dafür steht sie gerne früh auf. Katharina, die den Blog baeckermaedle.de betreibt, sagt: Sie muss ihren Job lieben, um ein erfülltes Leben zu leben.
Wenn ich ehrlich sein soll, könnte ich diesen Job ohne Leidenschaft gar nicht machen. Als selbstständige Bäckerin und Konditorin muss ich seit Jahren extrem früh aufstehen. Ich muss körperlich schwer arbeiten und dazu dafür sorgen, dass der Laden läuft. Diese Leidenschaft ist gerade gefragter als je zuvor, denn im Februar eröffne ich meine eigene Bäckerei. Ohne Passion könnte ich das nicht durchziehen. Jeden Tag alles zu geben – das klingt erst mal, als würde ich mich aussaugen lassen. Aber so ist das nicht. Meine Hingabe für diesen Beruf füllt meine Speicher auf, ich gebe also nicht einfach alles, sondern bekomme genauso viel zurück.
Voll und ganz selbstbestimmt
Die Leidenschaft für diesen nicht einfachen Beruf ist sozusagen mein Feuer im Ofen. Damit schaffe ich nicht nur ein Umfeld für meine Angestellten, das ich selbst gut finde, sondern auch ein florierendes Unternehmen, auf das ich sehr stolz bin. Diese Passion kommt, glaube ich, vor allem daher, dass ich mir meinen Beruf selbst ausgesucht habe, entgegen der Einwände der Berufsberaterin und der Menschen in meinem Umfeld. Ich habe selbstbestimmt gewählt, was und wie ich arbeiten will. Ich gehe nicht arbeiten, sondern Arbeitsleben und Privatleben verschwimmen bei mir zu einer Einheit.
Leidenschaft zahlt sich aus
Einen Alltag mit einem Job, für den ich nicht brenne, stelle ich mir ziemlich kalt vor. Ich würde mich wohl ungern morgens auf den Weg machen. Und ich vermute, ich wäre unzufrieden mit meinem Leben. Ja, ich denke sogar, dass ich ohne Leidenschaft für den Beruf eher von einem Burnout gefährdet wäre. Mein Feuer würde ausgehen und ein Großteil meiner Lebenszeit käme mir freudlos vor. Schon von klein auf war ich immer nah dran am Handwerk. Egal ob auf dem Bauernhof im Stall, auf dem Feld bei der Ernte oder in der Küche beim Kochen und Backen. Ich wusste, wie anstrengend ein Handwerksberuf sein kann. Ich habe auch in andere Jobs reingeschnuppert, aber am Ende zog es mich einfach in die Backstube. Dass ich so überzeugt bin von diesem Beruf, hat mich nicht nur zur Klassenbesten meines Jahrgangs gemacht, sondern auch zur Innungssiegerin. Von dort ging es für mich in die ganze Welt. Ich war sogar in Australien zum Backen. Mein Herz hat mir einfach gesagt, dass Bäckerin der passende Beruf für mich ist – und dass mein Feuer dafür nie ausgehen wird.
Ich habe selbstbestimmt gewählt, was und wie ich arbeiten will
Katharina RegeleTweet
Familie und Traumjob kombinieren – es geht!
Natürlich ist es für mich wichtig, Grenzen und Prioritäten zu setzen. Vor allem seit meine Tochter auf der Welt ist, gibt es Termine, die wichtiger sind als die Arbeit. In der Regel schaffe ich es jedoch, beides unter einen Hut zu bekommen. Ich muss zugeben, ich will es auch mir und anderen Eltern beweisen, dass Mutter und Bäckerin sein zusammengehen. Dass man beides haben kann. Auch wenn ich vielleicht mehr arbeite als andere Eltern, meine Tochter nimmt davon eine Sache ganz bestimmt mit: Sie sieht, wie glücklich mich mein Job macht und dass Arbeit nicht ätzend sein muss. Dass der Beruf etwas sein kann, was einem große Freude bringt und nicht nur Geld. Sie sieht, dass man ein erfülltes Leben haben kann, mit Familie und tollem Job. Das empfinde ich für junge Mädchen und Frauen als sehr wohltuend.
Die Liebe zum Handwerk und die Unterstützung meines Mannes ermöglichen es mir, auch als Mutter in diesem Beruf erfolgreich zu sein. Wobei ich meinen Erfolg vor allem daran messe, dass mir meine Arbeit Spaß macht. Dass ich jeden Tag voller Elan zur Bäckerei gehe und die viele Lebenszeit, die ich dort verbringe, sinnvoll mit etwas verbringe, was mir Freude bereitet. Ohne Leidenschaft würde ich diese Zeit eher als verschwendet ansehen. Backen ist für mich einfach so viel mehr als nur ein Brotjob. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Dieser Artikel erschien zuerst in EMOTION 12/22.
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