Das Geheimnis für guten Sex? Keinen haben! Immer mehr junge Frauen glauben an diese Formel. Durch Phasen der Enthaltsamkeit wollen sie herausfinden, was sie im Bett und auch im Leben wirklich wollen. Wie das funktionieren soll.
Wenn jemand einen eingestaubten, katholisch-belasteten Begriff wie das Zölibat sexy machen kann, dann wohl eine Kardashian. Kourtney, die älteste der It-Schwestern, hatte mit ihrem Ehemann Travis Barker eine Zeit lang enthaltsam gelebt. Danach kam sie aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus, weil der Sex nach der freiwilligen Enthaltsamkeit besser gewesen sei als je zuvor, jubelte sie. Die Begeisterung für zölibatäre Phasen teilen auch eine ganze Menge Menschen aus der Generation Z – denn der aktuell angesagteste Sex- Trend ist: keinen zu haben.
Mehrere Studien belegen, dass junge Menschen heutzutage später und weniger Sex haben als noch vor 25 Jahren. Kein Grund, diese Generation zu bemitleiden oder sie als prüde abzustempeln: Wie es sich für die selbstreflektierten Zoomer gehört, steht die Enthaltsamkeits-Bewegung natürlich ganz im Zeichen der eigenen Selbstfindung. Schließlich ist es bei den meisten nur ein Zölibat auf Zeit, das darauf angelegt ist, herauszufinden, was man eigentlich wirklich will – beim Sex, aber auch generell. Sobald man sich gefunden hat und bereit zu neuen Abenteuern fühlt, kann man sich wieder fröhlich zu zweit (oder zu mehreren) ausprobieren.
Befreiung aus toxischen Beziehungen
Besonders bei jungen Frauen findet das freiwillige Zölibat Anklang. Sie nutzen es beispielsweise häufig, um endlich toxischen Beziehungen abzuschwören und ihren Selbstwert zu erkennen. So auch Victoria de Vall, US-amerikanische Influencerin, Frauen-Coachin und Podcasterin. Die 24-Jährige lebte zwei Jahre lang enthaltsam und hatte in dieser Zeit weder Dates noch überhaupt Kontakt zu Männern. „Ich steckte in diesem Teufelskreis fest, der dazu führte, dass ich immer die falschen Typen datete“, erinnert sie sich. „Ich bin von einer toxischen Beziehung zur nächsten gesprungen, konnte nie alleine sein.“ Das schwierigste zu Beginn ihrer Enthaltsamkeit sei gewesen, bewusst Single zu sein. „Aber ich wusste, dass ich erst ein radikal eigenständiger Mensch werden musste, um herauszufinden, wer ich außerhalb von Beziehungen und männlicher Bestätigung wirklich bin.“
Keinen Sex zu haben, muss nicht unbedingt bedeuten, auch keinen mit sich selbst zu haben. Das kann natürlich jede*r für sich selbst entscheiden. Für Victoria war klar: ohne Masturbation? Ohne mich! „Es war mir wichtig, meine Sexualität zu erkunden, aber ohne Einflüsse von Pornos oder die Erwartungen von Männern. Ich glaube, dass viele Frauen denken, sie müssten sich beim Sex so verhalten, wie die Männer es von ihnen erwarten. Es ist eine Art Performance.“
Davon habe sie sich lösen wollen, sagt sie. „Sex war früher etwas, zu dem ich mich überreden ließ. Ich sah ihn als eine Sache an, auf die ein Mann nun mal ein Anrecht hat. Dabei habe ich mich aber nie sicher oder wertgeschätzt gefühlt.“ Die zwei Jahre Enthaltsamkeit hätten ihr Mindset komplett verändert, sagt Victoria. Nachdem sie vor anderthalb Jahren ihr Zölibat beendete, lernte sie ihren heutigen Partner kennen. Er hatte sie auf Instagram angeschrieben. „Normalerweise antworte ich auf solche Nachrichten nicht, aber ich konnte auf seinem Social-Media-Account sehen, dass er all das verkörpert, nach dem ich suchte“ – eben all das, was sie sich während ihres Zölibats ausgemalt hatte.
Leichter Grenzen setzen
Auch er hatte zwei Jahre enthaltsam gelebt, bevor er Victoria kennenlernte, und sei bereit gewesen, mit ihr ein neu gedachtes, gesünderes Liebesleben aufzubauen. Sie schliefen erst miteinander, nachdem sie beschlossen hatten, eine Beziehung einzugehen – so lange hatte Victoria bei ihren vorherigen Partnern nie gewartet. Das Warten habe sich gelohnt, sagt sie. „Unser Sex fühlt sich total ehrlich und liebevoll an, danach fühle ich mich lebendig und geborgen. Sex ist endlich etwas, auf das ich mich freue, eine tolle Erfahrung, die ich mit einem Menschen teile, den ich liebe.“
Im Gegensatz zu früher kenne sie ihren Wert jetzt, weshalb es ihr beim Dating leichter gefallen sei, ihre eigenen Grenzen einzuhalten, erzählt Victoria. „Ich habe nicht mehr die Männer auf ein Podest gestellt, sondern mich selbst. Denn wenn man sich nicht mit sich alleine wohlfühlt, ist ja klar, dass man immer wieder Kompromisse eingeht, die einem nicht guttun. Früher war ich lieber mit einem Mann zusammen, der nicht zu mir passte, als Single zu sein.“
„Sex war früher etwas, zu dem ich mich überreden ließ. Etwas, auf das ein Mann nun mal ein Anrecht hatte“
Ihre größte Erkenntnis sei gewesen, dass das Leben nicht etwas ist, das ihr passiert, sondern etwas, das sie steuern kann. „Ich bin endlich zur aktiven Teilnehmerin meines eigenen Lebens geworden. All die toxischen Beziehungen, die ich hatte – nun habe ich verstanden, dass ich etwas gegen sie tun kann.“ Durch ihre freiwillige Enthaltsamkeit ist sie nicht nur in Einklang mit ihrem Selbst gekommen, sondern auch mit ihrem Körper. Die starken Periodenschmerzen, die sie früher hatte, seien wie weggeblasen, sagt sie. Einfach nur, weil sie sich mit sich selbst auseinandergesetzt habe. Genau das ist der entscheidende Punkt: Einfach nur enthaltsam zu leben reicht nicht aus, um tiefgehende Erkenntnisse zu gewinnen. „Das freiwillige Zölibat ist nur der Rahmen, innerhalb dessen man dann ganz in Ruhe anfangen kann, an sich selbst zu arbeiten“, sagt Victoria. „Hab’ Dates mit dir selbst, geh zur Therapie, mach bei Coachings mit und sei vor allem bereit, dein altes Leben und Verhalten hinter dir zu lassen.“
Selbstwert erkennen
So märchenhaft sich das auch alles anhört: Von nichts kommt eben nichts, betont auch die Sexualtherapeutin Dania Schiftan, die eine eigene Praxis in Zürich hat. Es sei wichtig, sich klarzumachen, warum man den Weg des einstweiligen Zölibats gehen will und was man sich davon erhofft. „Wenn mein Ziel ist, mich dadurch für eine andere Person interessanter zu machen oder meine Lust zu steigern, dann ist das kein sinnvoller Ansatz. Wenn ich aber an mir selbst arbeiten und meine Sexualität besser verstehen möchte: super.“ Dania Schiftan glaubt allerdings nicht daran, dass man dafür unbedingt eine Phase der Enthaltsamkeit braucht: „Sexualität ist gelernt. Und alles, was ich lerne und übe, kann ich verändern“, sagt sie. Es könne also dementsprechend ebenso hilfreich sein, an sich und seiner Sexualität zu arbeiten, während man mit einer anderen Person „übt“. Problematisch wird es nämlich, wenn Paarsexualität als etwas Negatives angesehen wird und sich junge Menschen zu etwas zwingen, was sie eigentlich nicht wollen. Schiftan sagt: „Sexualität sollte etwas Flexibles und Lustorientiertes sein. Und natürlich selbstbestimmt – aber in alle Richtungen. Wenn ich sage, ich möchte enthaltsam sein, ist das total gut. Aber wenn ich morgen nicht mehr enthaltsam sein will, sollte das ebenso fein sein.“
#celibacy
Die Tatsache, dass vor allem junge Menschen den Enthaltsamkeits-Trend so abfeiern (auf TikTok hat der Hashtag „celibacy“ über 140 Millionen Aufrufe), spiegelt auch eine Entwicklung in der Gesellschaft wider. Selbstbestimmte und einvernehmliche Sexualität wird zum immer größeren Thema, und weibliche Lust nimmt mehr Raum ein. Auch wenn wir von einer gleichberechtigten Sexualität noch weit entfernt sind, stellt Dania Schiftan klar. Für Victoria de Vall hängt diese Entwicklung vor allem damit zusammen, dass ihre Generation durch das Internet mehr Zugang zu Informationen hat als die Generationen vor ihr. „Wir haben eine viel bessere Ausgangsposition, um Dinge zu hinterfragen und zu heilen. Früher wurde Frauen beigebracht, dass sie mit ihrem Mann Sex haben müssen, um ihn zufriedenzustellen. Wir haben endlich realisiert, dass wir das nicht mitmachen müssen.“
Ein echter Fortschritt – auch wenn es für diese Erkenntnis vielleicht manchmal einen Sexverzicht braucht.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 3/23.
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