Am liebsten alleine nachts durch die Clubs ziehen oder Auftritte nur im Doppelpack? Jeden Bon einzeln abrechnen oder ein gemeinsames Konto? Über die hohe Kunst, zwischen Individualismus und Pärchen-Plural zu pendeln.
"Wir" – das "Pärchen-Plural"
Ohne Frage: "Wir" hat einen wahnsinnig guten Ruf. Es klingt nach Geborgenheit. Nach: Wir schaffen es gemeinsam. Wir gehören zusammen. Uns trennt nichts. Berühmt sind die Worte des Religions- und Sozialphilosophen Martin Buber, dass der Mensch nur "am Du zum Ich" werden kann, erst der Mensch mit dem Menschen ein rundes Bild sei. Wenn wir (you name it) so denken, begreifen wir, dass wir die Welt gemeinsam mit und für andere gestalten. Wir spüren, dass wir nicht alleine sind, sondern auf Unterstützung, Beistand und Liebe hoffen dürfen.
Eine Studie an der Universität von Kalifornien, veröffentlicht im "Journal of Social and Personal Relationships", ergab, dass Beziehungen glücklicher sind und besser funktionieren, wenn häufig das Wort "wir" genutzt wird. Es vom anderen zu hören, fühle sich besonders gut an. Das ist wunderbar. Und es gibt den berühmten "Pärchen-Plural": Wir sind schwanger. Wir fanden den Film toll. Wir essen nur vegan. Egal, wie sehr man die Zweisamkeit schätzt, in der Häufung klingt das ein bisschen gruselig. Oder man grinst darüber. Oft gibt sich dieser Wahnsinn nach der größten Verliebtheit wieder. Oder wird zumindest milder. Manchmal auch nicht. Aber selbst wenn man "wir" in Gesprächen cool dosieren kann, bleibt es eine Herausforderung, das richtige Maß von Ich, Du und Wir zu finden.
Der schmale Grat zwischen Bindung und Autonomie
Wir alle stehen unser Leben lang vor der Aufgabe, eine gute Balance zwischen Bindung und Autonomie zu finden. Beides sind zentrale Bedürfnisse. Kleine Kinder brauchen es für ihre Entwicklung, dass sie zu Erkundungstouren aufbrechen (vom Schoß weg, in ein anderes Zimmer und immer weiter) und dann wieder im sicheren Hafen Nähe und Sicherheit tanken können. Weg von der Beziehungsperson, hin zu der Beziehungsperson. Eine never-ending story, ein ständiges Einüben von trennen und wiederbegegnen. In einer perfekten Beziehung wäre das gar nicht so viel anders. Wir könnten uns dann aus der Beziehung entfernen, als Individuum Erfahrungen sammeln, neue Leute kennenlernen, uns beruflich weiterentwickeln. Und wieder zurückkehren.
"Ich" oder "Wir": Gar nicht so simpel, wie es klingt
In der besten aller Welten träfen wir in unserem emotionalen Zuhause auf unseren Partner oder unsere Partnerin, der oder die Veränderungen und neue Impulse interessiert aufnähme, eigene einbrächte, und wir entwickelten uns als Paar weiter. Keine Überraschung: Im echten Leben gibt es Störungen. So idealtypisch läuft es meist nicht. Du kommst von einer super coolen Weiterbildung nach Hause? Dein Partner begrüßt dich mit strafendem Desinteresse! Deine Partnerin wünscht sich, dass du aufs Festival mitkommst? Ups, diese blöden Kopfschmerzen am Morgen der Abfahrt!
Der harmonische Tanz zwischen Nähe und Distanz, zwischen Wir und Ich gelingt oft nicht. Viele Menschen haben einen starken Drall in eine der beiden Richtungen. Die individuelle Persönlichkeit, frühe Erfahrungen mit den Eltern, das kulturelle Umfeld: Manche Menschen befinden sich in steter Sorge, die Bindung könnte leiden – und wagen deshalb kaum Autonomie. "Ich" klingt für sie wie eine Bedrohung. Andere wiederum pochen vehement auf ihre Unabhängigkeit und reagieren allergisch, wenn diese nur im geringsten eingeschränkt wird. Bei harten Nüssen reicht dann schon ein Satz wie "Am nächsten Freitag essen wir mit meinen Eltern", um Unmut und Widerstand auszulösen.
"Urdistanz" – wie stehe ich zu mir?
Der kluge Martin Buber hat dieses Problem mitgedacht. Ihm war klar, dass das mit "Ich und Du" zwar toll, aber nicht so einfach ist, wie es sich zunächst anhört. Um mit anderen Menschen in Beziehung treten zu können, bedürfe es einer "Urdistanz". Damit meinte er das Verhältnis zu sich selbst. Erst wenn man sich selbst kennt und sich als Person annimmt, kann man in eine Beziehung zu anderen treten. Was wir anstreben sollten, sei das, was zwischen Individualismus und Kollektiv liegt, die Zwischenmenschlichkeit.
Ein erster Schritt dahin ist die Selbsterkundung: Wie ticke ich? Was ist mein persönlicher "Wohlfühlabstand"? In welchen Momenten werde ich unruhig? Breche ich aus, wenn es zu kuschelig wird? Oder rücke ich meinem Partner oder meiner Partnerin auf die Pelle, wenn er oder sie nur einen Schritt zur Seite tut? Ist zu viel "Wir" in unserer Beziehung? Gar gegen den Rest der Welt? Oder leben wir in einer "Ich und Ich"-WG? Wirken die Fliehkräfte ungebremst?
Die Kennenlern-Geschichte
"Wie haben Sie sich kennengelernt?", fragt der US-Paarforscher John Gottman häufig. Denn er hat beobachtet, dass die Art und Weise, wie Paare davon erzählen, viel aussagt. Beschweren sie sich darüber, dass dem Partner oder der Partnerin das Benzin im Auto ausgegangen ist, sodass sie zu Fuß gehen mussten, oder betonen sie die schöne Unterhaltung, die sie damals auf diesem ersten Spaziergang hatten? An der Tonalität der Erzählung ließe sich ablesen, ob zwei Menschen eher gemeinsam an der Sache dran sind, oder ob es nur um den Einzelnen geht.
Allerdings: Dieses "Ich-Wir"-Ding ist nicht nur eine Privatangelegenheit. Jeder Mensch kann sich fragen, welcher "Bindungsjob" von außen an ihn herangetragen wird, zum Beispiel durch das Umfeld. Wer 2023 eine interessante Karrieremöglichkeit ablehnt, allein um eine Fernbeziehung zu vermeiden, wird möglicherweise für unselbstständig gehalten. Umgekehrt: Zum Pärchenabend werden eingeladen, logisch: Pärchen. In westlichen Kulturen erhalten wir permanent "mixed messages": Hab eine innige Beziehung! Und sei gleichzeitig gänzlich unabhängig! Ein unerfüllbares Ideal.
Flexibilität bringt Stabilität
Und nicht nur unsere individuelle Biografie und persönlichen Begegnungen bestimmen, wie viel Ich und Wir es in unseren Beziehungen gibt. Es sind ebenso gesellschaftliche Normen, ausgesprochene und unausgesprochene. Wenn man sich überlegt, wie viele Frauen sich fürs Einrichten begeistern, könnte man die These wagen: Hier wird implizit der Job vergeben, in Beziehungen für Bindung und Nähe zu sorgen.
Sich das Ganze nicht als Entwederoder, sondern vielmehr als Pendelbewegung vorzustellen, kann entspannen. Wenn zwei sich flexibel zwischen den Polen bewegen können und dürfen, gewinnt die Beziehung an Leichtigkeit. Und wundersamerweise gleichzeitig auch an Stabilität.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 06/23.
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